Bartleby - Der Schreiber
Story:
163 Jahre hat diese Erzählung nun schon hinter sich. Herman Melville, allen sicherlich bestens durch sein Hauptwerk "Moby Dick" bekannt, schrieb "Bartleby, der Schreiber" direkt nach den ausführlich geschilderten Kampf zwischen Kapitän Ahab und dem weißen Pottwal. Das Werk wurde mehrmals verfilmt und zählt heute als Klassiker der expressionistischen und absurden Literatur.
Die Geschichte wird aus der Sicht eines Notars erzählt. Dieser hat dermaßen viele Schreibaufträge, dass er einen neuen Mitarbeiter anstellen will. Bartleby überzeugt durch ein wohl erzogenes Auftreten und eine gewisse Ruhe. Doch bereits nach kurzer Zeit sinkt die Arbeitsleistung des Schreibers, bis er überhaupt nichts mehr macht. Er ist jedoch immer anwesend, verneint aber alle Versuche, ihn zur Wiederaufnahme seiner Arbeit zu bewegen.
Meinung:
Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Leser bereits zahlreiche Infos über den Notar und seine Firma erhalten. Es wurden die übrigen drei Mitarbeiter detailliert vorgestellt und die Arbeitsabläufe beschrieben. Die Basis steht folglich. Der erste Auftritt von Bartleby ist ebenfalls relativ unspektakulär. Arbeitsam wie eine Ameise und auch genauso still, verbringt er viel Zeit an seinem Schreibtisch. Kurios wird es erst, als der Schreiber plötzlich verschiedene Anweisungen des Notars verneint. "Ich möchte lieber nicht!" wird im Buch zur Standardaussage, mit der er alle Vorschläge ablehnt.
Genauso ungläubig wie der Notar verfolgt der Leser anschließend den weiteren Verlauf dieser Geschichte. Der Notar in Person des Erzählers berichtet über seine Gedanken hinsichtlich Bartleby und dessen strikte Weigerung, einer Tätigkeit nachzugehen. Dabei wird gut dargestellt wie human der Notar ist. Anstatt ihn einfach rauszuschmeißen, versucht er die Ursache für dieses Nichtstun herauszufinden. Da Bartleby allen Gesprächen ausweicht, ist er auf seine eigenen Vorstellungen und Mutmaßungen begrenzt. Dies führt zu längeren Gedankengängen und Abwägungen, was in der Causa Bartleby zu tun ist. Immer wieder neue Vorstellungen gibt es seitens des Notars, wie er den Schreiber zu neuen Tatendrang verhelfen kann, doch nichts scheint zu fruchten.
Dies weckt beim Leser gehöriges Interesse, da hier zwei Welten aufeinanderprallen. Zum einen der umtriebige Notar und zum anderen der zur Stehlampe erstarrte Bartleby. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis dieses Szenario eskaliert. Doch der Autor scheut diesen einfachen Weg. Er versucht nicht beide Figuren gegeneinander auszuspielen, sondern er lädt allen Druck einfach auf den Schreiber ab, worauf dieser jedoch nicht nennenswert reagiert.
Diese Passivität nimmt mehr und mehr skurrile Züge an, was sich vorallem in den Aktionen des Notars widerspiegelt. Der Leser kann mit zunehmender Seitenzahl nur den Kopf schütteln, so unglaublich menschenfreundlich ist der Notar.
Und bei alldem ist der Leser überaus gut unterhalten, vorallem weil der Notar ein interessanter Erzähler ist und die Geschichte extrem an Spannung zunimmt. Obwohl im Grunde genommen keine nennenswerte Action stattfindet, sind es gerade das Geheimnis hinter Bartleby und seine Reaktionen auf die Vorschläge und Taten des Notars, welche die Story so kurzweilig gestalten.
Illustriert wurde die Geschichte mittels ganzseitiger Zeichnungen, welche in loser Reihenfolge über das Buch verteilt sind. Die Grafiken von Stéphane Poulin zeigen überwiegend ruhige und stille Momente der Handlung. Sie werden nicht zum Verständnis des Textes benötigt, spiegeln aber die Schwerpunkt der Story wider. Oftmals helfen sie dem Leser auch bei einer Visualisierung der Umgebung, was gerade zum Ende der Geschichte nicht unwichtig ist.
Fazit:
Das vorliegende Buch enthält ein kleines Kunststück. Sehr ruhig, ohne wirklich hektische Wendungen und Überraschungen, aber dennoch voll von Spannung. Die Geschichte des Schreibers Bartleby fesselt dank überlegener Erzählkunst von Beginn an und lässt einem bis zur letzten Zeile nicht mehr los. Unbedingt zugreifen!
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