Zementfasern
Story:
Mimi möchte nicht mit ihren Eltern in die Schweiz gehen. Doch es hilft nichts, sie muss. Es sind die 1970er Jahre und die Familie zählt zu den vielen italienischen Gastarbeitern, die im Norden ihr Glück versuchen. Die Männer arbeiten in einer Asbest-Fabrik und schon bald fängt das Sterben an. Jahre später ist aus Mimi eine selbstbewusste Frau geworden, deren Tochter Arianna sich aufmacht, die Schuld daran zu suchen, dass sie in einem Dorf aufwuchs, wo es keine älteren Männer gibt!
Meinung:
Asbest ist heute ein Schreckgespenst aus der Vergangenheit. Man weiß, dass es Krebsauslösend ist und dass, wenn es gefunden wird, man es schleunigst beseitigen muss. Doch es gab eine Zeit, als dieser Stoff noch als ungefährlich galt. Als "nur" die armen Leute an der Asbestose genannten Krankheit erlagen. Mario Desiati beschäftigt sich in "Zementfasern" mit jenen armen Menschen.
Der Autor wurde 1977 in Lorotondo geboren und lebt heute in Rom. Er arbeitet als Lektor beim italienischen Verlag Fandango und schreibt für die Zeitung La Repubblica. Des Weiteren hat er Gedichte, Erzählungen und Romane zu Papier gebracht. "Zementfasern" ist sein Deutschland-Debüt.
Es ist das Jahr 1975, als Domenica Orlando, genannt Mimi, mit ihren Eltern nach Zürich zieht. Der Vater hat dort Arbeit in einer Zementfabrik gefunden, wie viele andere Emigranten auch. Und so stellen jene Männer Asbest her, während die Frauen zu Hause bleiben. Zwar wird die Arbeitskraft der italienischen Arbeiter geschätzt, doch sind sie nicht wirklich in der Schweiz willkommen. Und in jener Kälte findet Mimi schon bald ihre erste Liebe, in dem 18-jährigen Ippazio.
Jahre sind vergangen und aus jener zärtlichen Beziehung entstand ein Kind. Arianna ist ihr Name und sie wird allein von Mimi großgezogen. Ihre Mutter ist stolz und steht zu ihrer Freiheit, die sie bis zur letzten Konsequenz verteidigt. Doch die Vergangenheit ruht nicht und schon bald beobachten die beiden Frauen, wie nach und nach die Männer in ihrem Dorf wegsterben. Es ist ein schrecklicher Husten, der sie plagt und am Ende umbringt. Doch erst die Tochter von Mimi erkennt die Wahrheit, hinter dieser Krankheit und woher sie stammt. Es ist die Asbestose, die die Männer aus ihrer Arbeit in der Schweiz herhaben.
Wer bei der Inhaltsangabe des Romans eine wütende Anklageschrift gegen die bis heute ungeschoren davongekommenen Fabrikinhaber erwartet, der dürfte beim Lesen enttäuscht sein. Statt einer Attacke schreibt Mario Desiati eine ruhige und beschauliche Geschichte. Im Mittelpunkt seiner Handlung steht das Miteinander zweier Frauen.
Auf der einen Seite hat man Domenica Orlando, Mimi wie sie von allen genannt wird. Eine ruhige und starke Persönlichkeit, die es schafft, ihre Tochter Arianna alleine großzuziehen und gleichzeitig eine glückliche Kindheit zu bescheren. Sie ist eine Frau, die sich nicht alles gefallen lässt, was vor allem gegen Ende des Romans offensichtlich wird.
Eine Neigung, die sich auch auf ihre Tochter überträgt. Arianna ist genauso wie ihre Mutter stolz und selbstbewusst. Bei ihr bedeutet das, dass sie Jura studiert und sich dann daran macht, das Unrecht, was an ihrer Familie und ihrem Dorf begangen wurde, zu rächen. Sie hakt nach und lässt sich nicht abwimmeln. Sie ist fast so etwas wie die heimliche Heldin in Desiatis Roman.
Fast deshalb, weil die Geschichte keine klaren Helden kennt. Der Autor schafft es, seine Charaktere realistisch darzustellen. Sie leben und haben Ecken und Kanten, Geheimnisse die sie nur selten mit anderen teilen. Dabei gestaltet sich der Handlungsfortschritt ruhig, aber nicht langweilig. Desiati nimmt sich einfach die Zeit, seine Szenen gestalten zu können und seine Figuren sich fortentwickeln zu lassen.
Ein beeindruckendes Buch, das gerade deswegen am Ende eine unglaubliche Wucht entwickelt. Deshalb wird es auch als "Klassiker" bewertet und erhält den "Splashhit".
Fazit:
"Zementfasern" ist das Deutschlanddebüt von Mario Desiati. Der Autor schreibt auf ruhige Art eine Geschichte, die langsam eine unglaubliche Wucht entwickelt. Dabei konzentriert er sich vor allem auf das Miteinander seiner Protagonisten. Sowohl Mimi als auch ihre Tochter Arianna überzeugen und sind gut geschrieben. Dabei wirken sie sehr realistisch.
|