Die geheimen Reisen des Jack London: Die Wildnis
Story:
Der 17-jährige Jack London begibt sich
gemeinsam mit seinem Schwager John Shephard in den hohen Norden
Amerikas, um am Klondike sein Glück als Goldsucher zu finden. John
tritt jedoch schon kurze Zeit später den Rückweg in die Heimat an.
Allein auf sich gestellt wagt Jack den Aufstieg zum Chilkoot Pass.
Bald trifft er auf Merrit und Jim, mit denen er sich anfreundet und
den harten Winter in der Wildnis erlebt und übersteht. Das Trio
verschlägt es alsbald in die Weiten Kanadas, wo sie sich gegen mehr
bewähren müssen als nur die raue Natur.
Meinung:
„Wer ist Jack London?“ Diese Frage
treibt in Chris Goldens und Tim Lebbons „Die geheimen Reisen des
Jack London: Die Wildnis“ den jungen Protagonisten an. Aus der
Perspektive von heute ist die Frage relativ leicht zu beantworten.
Jack London war ein amerikanischer Schriftsteller, der durch
Abenteuerromane wie „Der Ruf der Wildnis“, „Wolfsblut“ oder
„Der Seewolf“ bekannt wurde und bis heute viele Leser in seinen
Bann gezogen hat und noch immer zieht. Unzählige Male sind seine
Werke – mal mehr, mal weniger eng an der Vorlage orientiert –
verfilmt worden. Welchen Einfluss seine Geschichten bis heute haben,
zeigt u. a. das Schicksal des jungen Aussteigers Christopher
McCandless, der inspiriert von den Abenteuerromanen Londons und dem
Philosophen H. D. Thoreau, allein auf einer Abenteuertour durch die
USA ging und fernab der Zivilisation, in Alaska, verstarb.
Viele von Jack Londons Büchern handeln
von der rauen, unberührten Wildnis Nordamerikas, die er selbst Ende
des 19. Jahrhunderts bereiste, darunter den Klondike zur Zeit des
Goldrausches, jenem magischen Ort, der Glücksritter aller Art anzog.
Viele Leser, Kritiker, Literaturwissenschaftler und Historiker sind
sich bis heute uneins, wie viele von Jack Londons Geschichten auf
eigenen Erfahrungen beruhten und welche er aus anderen Quellen in
seine Romane hat einfließen lassen. Die Weiten Nordamerikas boten
schon damals viele Märchen und Legenden. Auch von den
Trappergeschichten, die an Lagerfeuern und Bars unter den
Abenteuerhungrigen und vom Glück Verlassenen ihre Runde machten,
könnte London inspiriert worden sein.
Diese biographische Lücke im Leben des
angesehenen US-Amerikaners bildet die Ausgangslage für seinen
Landsmann Chris Golden und den Waliser Tim Lebbon. In ihrer Reihe
„Die geheimen Reisen des Jack London“, die vom „Conan“ und
„Freaks of the Heartland“-Zeichner Greg Ruth illustriert wurde,
hat „ihr“ Jack weitaus mehr erlebt, als es sein Gesamtwerk
erahnen lässt. Die beiden Autoren bedienen sich hierbei eines Tricks
und lassen einen Mann, dem der Titelheld in Dawson das Leben gerettet hatte,
rückblickend von den geheimen Erlebnissen seines Retters erzählen.
Diese besondere Konstellation nutzt das
Autorenduo, um Jacks Biographie zu verändern – oder auch zu
ergänzen, wenn man den Roman als alternative Biographie liest. So
heben Golden und Lebbon die Beziehung zu seiner Halbschwester hervor,
obwohl diese ihn gar nicht aufzog und auch kein Mutterersatz für den
Jungen war, wie behauptet wird. Den hellseherischen Fähigkeiten
seiner Mama, die sich daheim in Oakland als Spiritisten ein Zubrot
verdiente, werden gleich in Jacks erster Nacht in Dyea eine tragendes
Rolle zugeschrieben. Mit dem Auftritt seiner Mutter als geisterhafte
Gestalt, deutet sich auch an, in welche Richtung sich die Geschichte
entwickeln wird. Jacks Erlebnisse werden zu einer phantastischen
Reise durch eine von Gewalt und Verzicht geprägte Welt, in der nicht
ausgeschlossen werden kann, dass jeder neue Tag der letzte auf Erden
sein könnte.
Als Verbündeter Jacks fungiert ein
stattlicher Wolf, der dem Helden wie ein Schatten in einiger
Entfernung folgt. Dennoch ist es nicht das Tier, das sich in einen
Konflikt befindet und sich zwischen seiner wilden Heimat und einem
Zuhause entscheiden muss, wie es in Londons „Wolfsblut“ und „Der
Ruf der Wildnis“ der Fall ist. Es ist nämlich Jack, der sich in
der Wildnis mit sich selbst konfrontiert sieht und sich fragen muss,
wer er eigentlich ist und ob er das Wilde in sich zähmen kann. Der
Instinkt, der ihm in der Natur das Leben rettet, könnte ihn in der
Zivilisation zum Verhängnis werden.
Es stellt sich alsbald die Frage, zu
welchem Genre der erste Band der „Secret Journeys“ gezählt
werden kann. Abenteuerroman? Jugendbuch? Horrornovelle?
Märchenerzählung? Alternative Biographie? Unterm Strich ist von
allem etwas dabei und im englischen Sprachraum könnte man „Die
geheimen Reisen des Jack London: Die Wildnis“ durchaus als „All
Age Horror“ bezeichnen. Wo sonst sollten gewaltbereite
Sklaventreiber, ein Wendigo, ein Schutzgeist und andere
Sagengestalten ihren Platz in den unendlichen Weiten der kanadischen
Wildnis finden?
Die Darstellung der Brutalität von
Menschen und Wesen ist jedoch nichts für allzu Zartbesaitete.
Dennoch gelingt den beiden Autoren spielend der Spagat zwischen der
realistischen Schilderung des harten Alltags der glücklosen
Goldsucher und den märchenhaften Bewohnern der eisigen Region. Die
Zeichnungen von Greg Ruth verstärken die Eindrücke, die Jack im
Lauf der Zeit von der Welt gewinnt. Trotz aller Entbehrungen,
Erniedrigungen und Kämpfen, nimmt ihr junger Protagonist die
Schönheiten der fast unberührten Natur wahr. Am Ende dieser
mitreißenden Reise bleibt nur noch die Frage, wann hierzulande der
zweite Band der „Secret Journeys“ erscheint.
Fazit:
Mit „Die geheimen Reisen des Jack
London: Die Wildnis“ legt das Autorenteam Golden und Lebbon einen
gelungen Auftaktband vor, der Vorfreude auf weitere geheime Abenteuer
des jungen Mannes macht, der noch weit davon entfernt ist, einer der
bedeutendsten US-Schriftsteller zu werden. Greg Ruths Zeichnungen
runden das spannende Abenteuer ab, das die harte Wirklichkeit
schonungslos schildert und bekannte Motive aus Jack Londons Romanen
verwendet.
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