Auch die sechzigste Frankfurter Buchmesse nach dem Einschnitt des Zweiten Weltkriegs begann wie so viele vor ihr, nämlich mit der Eröffnungs-Pressekonferenz am Vormessen-Dienstag. Auf dem Podium begrüßten Jürgen Boos, Direktor der Buchmesse, Professor Dr. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins und Bestseller-Autor Paulo Coelho die Journalisten. Zuvor hatte ein animiertes Intro auf der Leinwand einen Überblick über die Entwicklung der Buchmesse seit 1949 gegeben.
Buchmesse-Direktor Jürgen BoosJürgen Boos sah die Buchmesse auf stabilem Kurs. Die Zahlen können sich mit dem Rekordjahr 2007 messen, insgesamt werden sich 7.373 Aussteller dem Publikum präsentieren. Die vermietete Fläche konnte um zwei Prozent leicht gesteigert werden. Ebenfalls zwei Prozent mehr konnte Boos bei den angelsächsischen Ausstellern vermelden. Das sei nicht selbstverständlich, sondern hart erarbeitet. Die meisten Aussteller stammen mit 3.337 Ständen nach wie vor aus Deutschland, aber Großbritannien (834 Aussteller) und die USA (662 Aussteller) folgen direkt dahinter.
In Zeiten einer weltumspannenden Finanzmarktkrise wird auch auf der Buchmesse der Blick noch ein wenig stärker auf die monetären Aspekte der Branche gerichtet. Aber die Buchbranche folgt wie schon oft auch zur Zeit ihren eigenen Gesetzen: Eine Umfrage der Buchmesse und des Branchenmagazins buchreport unter Verlagsleitern deutschsprachiger Publikumsverlage zeigte zwar, dass es drei Mal so viele Skeptiker wie Optimisten gibt. Aber nichtsdestotrotz sieht die Mehrheit der Befragten eine gleich bleibende Geschäftslage. Bücher scheinen wirtschaftlichen Zyklen gegenüber recht widerstandsfähig – ein Ausdruck der Tatsache, so Boos, dass sie nicht Luxus, sondern lebensnotwendig sind.
Von den mehr als 400 Veranstaltungen an den folgenden fünf Messetagen dreht sich mehr als die Hälfte um ein Thema, das Verlegern, Autoren und Leser wohl in Zukunft immer mehr begegnen wird, die Digitalisierung. Die modernen Kommunikationsmöglichkeiten, die Daten in Sekunden von einem Kontinent zum anderen befördern, bergen auch für die Buchbranche neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Auch in den neuen, noch unvertrauten Markt für E-Books will die Buchmesse in ihrer Paraderolle glänzen, nämlich als Netzwerker und als Plattform für Begegnungen, Gespräche, Geschäfte. Zu den Aufgaben der Buchmesse gehört es aber auch, die Entwicklung gemeinsamer Regeln für diesen neuen Markt zu fördern.
Prof. Dr. Honnefelder, Vorsteher des BörsenvereinsGottfried Honnefelder warf vor allem einen Blick aus Sicht der Verleger, Autoren und Rechteinhaber auf die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung. Das E-Book sei eine große Chance für den Buchmarkt, allerdings müssten die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen stimmen. Der Vorsteher des Börsenvereins wählte das Bild einer anderen technischen Innovation, die sich rasant entwickelte: Zuerst wurden die Autos immer schneller, und erst dann wurde eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt. Spätestens jetzt, wo sich E-Books aus der Nische der Spezial- und Fachverlage zu den großen Publikumsverlagen ausbreiten, muss jeder Anbieter sein Geschäftsmodell hinterfragen. Dabei müssen sie, meint Honnefelder, auch bereit sein, sich von der direkten Finanzierungsweise Geld für Inhalte zu lösen. Auch buchgerechte Finanzierungsmodelle, die die Leistungen der Verlage auf indirekte Weise entlohnen, seien denkbar.
Diese Entlohnung möchte Honnefelder jedoch sichergestellt wissen. Bildung, Wissen und Inhalte seien die Ressourcen einer modernen Gesellschaft, die geschützt werden müssten. Wer in einer Buchhandlung ein Buch stiehlt, muss mit Strafe rechnen. Wieso sollte das im Internet nicht gelten? Der Vorsteher des Börsenvereins vermisst hier Verständnis der Politik für diese Problematik. Die bisherige Gesetzeslage greife in vielen Fällen zu kurz. Außerdem habe die Politik nicht begriffen, dass ein Gesamtkonzept für den Umgang mit geistigem Eigentum und Persönlichkeitsrechten im Netz entscheidend sei.
Paulo Coelho schlug als letzter der drei Redner den ganz großen Bogen: In einem Kinofilm habe er kürzlich den wegen Ketzerei verbrannten Giordano Bruno sagen gehört, er habe gerade die Frankfurter Buchmesse besucht. Heute, vier Jahrhunderte später, trifft sich die Welt der Bücher und der Literatur nach wie vor in Frankfurt. Besonders eine Erfindung hatte zum Siegeszug des gedruckten Wortes beigetragen, nämlich der Druck mit beweglichen Lettern. Im Gegensatz zu Ausdrucksformen wie Malerei oder Theater muss der Künstler bei einem Buch nicht körperlich anwesend sein. So gewannen Ideen und Meinungen eine völlig neue Bewegungsfreiheit. Heute erlebt der Austausch von Ideen und Meinungen eine neue Revolution, die neue, ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Nach der Abtrennung der Idee vom Künstler in Form des gedruckten, transportablen und vervielfältigbaren Buches, wird auch das Buch selbst quasi entkörperlicht. Dadurch entfallen Herstellungs-- und Vertriebskosten fast völlig. Wo früher Bücher gedruckt und verschickt werden mussten, kann heute ein Autor sein Werk als E-Book auf eine Website stellen. Von dort können es Leser aus aller Welt herunterladen und auch kommentieren. Diese Demokratisierung der Ideen, die mit Gutenberg begonnen hatte, hält Coelho für außerordentlich wichtig. Jeder kann im Web veröffentlichen, in Worten, aber auch bei Plattformen wie YouTube oder BlogTalkradio, in Bild und Ton. Die Partizipation am Wandlungsprozess der Gesellschaft wird durch die neuen Medien erheblich erleichtert.
Der brasilianische Bestseller-Autor kann den Verlagen nicht viel Hoffnung für die kommerzielle Zukunft machen: Die Menschen tauschten das, was sie für wichtig halten, kostenlos untereinander aus, und sie erwarteten, dass dasselbe auch für die Massenkommunikation gelte. Diese Umstellung falle den herkömmlichen Massenmedien schwer, meint Coelho. Als um die Jahrhundertwende Napster aufkam, nutzten die Manager der multinationalen Plattenfirmen nicht die Chancen der neuen Art des Austauschs, sondern schickten ihre Anwälte ins Feld. Das Ergebnis ist bekannt, Apples iTunes hat längst die traditionellen Musikverlage überholt, und fast jedes Lied ist legal oder illegal im Internet zu bekommen. Das zweite „Opfer“ des Internets sieht der Schriftsteller in der Film- und TV-Branche. Heutige Computer und Breitband-Internetzugänge schaufeln einen Film in guter Qualität in wenigen Stunden auf die heimische Festplatte. Hier komme die Branche schneller zu neuen Lösungen, etwa die Möglichkeit, sich Fernsehserien in offiziellen Portalen anzusehen (etwa South Park bei Comedy Central) , oder Fancommunities im weltweiten Netz. Solange sich die Produzenten aber weigerten, den ihrer Ansicht nach passiven Verbraucher zu Wort kommen zu lassen, werde ihr Publikum weiter schwinden, prophezeit Coelho.
Paulo Coelho liest der Verlagsbranche die LevitenWas bedeutet das für das Verlagsgeschäft? Das Internet sei vor allem ein schriftliches Medium, und seit den Neunzigern ist das Verlagswesen dankbar dafür, dass die Menschen so wieder Gefallen an der Schriftform finden. Allerdings steht die Branche dem Internet immer noch eher überrascht und verständnislos gegenüber. Anstelle die neuen Möglichkeiten für Werbung, Kundenbindung und Vertrieb zu nutzen, wird das Internet als „der Feind“ betrachtet. Die Mönche, die im 16. Jahrhundert ihre Folianten kopierten, hätten wohl die gleiche Einstellung zu gedruckten Büchern gehabt, nimmt Coelho ihre heutigen Nachfahren auf's Korn. Der Autor schlägt sogar vor, den gesamten Inhalt aller Bücher in digitalisierter Form umsonst anzubieten. Das widerspreche zwar dem gesunden Menschenverstand, aber je mehr man gebe, desto mehr gewinne man. Coelho kann aus eigener Erfahrung berichten, dass dieses Modell durchaus funktionieren kann. 1999 schossen die Verkäufe der russischen Übersetzung von "Der Alchimist" geradezu explosionsartig in die Höhe. Wurden vorher aufgrund der riesigen Entfernungen und der damit verbundenen Vertriebsprobleme vielleicht 1.000 Exemplare pro Jahr verkauft, waren es plötzlich 10.000 Exemplare. Ein weiteres Jahr später lag die Zahl bei 100.000, noch ein Jahr danach bei einer Million Exemplaren.
Als Coelho nach den Ursachen fragte, zeigte sich erstaunliches: Ein digitale Raubkopie des "Alchimist" hatte die Leute auf das Buch aufmerksam gemacht, so dass sie sich die gedruckte, offizielle Fassung gekauft hatten. Paulo Coelho entschloss sich zu einer ungewöhnlichen Maßnahme. Er richtete die Seite "The Pirate Coelho" ein, die auf illegale Kopien seiner Werke in den verschiedensten Sprachen verlinkte. Nach einigem Zögern ließ sich auch sein US-Verlag Harper Collins auf ein Experiment ein. Ab Anfang 2008 erschien jeden Monat ein Buch von Coelho ungekürzt, digital und kostenlos. Der Absatz des gedruckten Buchs lies jedoch nicht nach, im Gegenteil, der "Alchimist" hielt sich ein Jahr lang in der Bestsellerliste der New York Times
Darin sieht der Schriftsteller einen greifbaren Beweis für die Bewegung, in der sich die Branche befindet. Wenn man das Internet zur Verkaufsförderung nutze, zeigten sich die Ergebnisse in der realen Welt. Auf "The Pirate Coelho" konnten die Fans aber nicht nur konsumieren, sondern sich auch beteiligen. Das Projekt "The Experimental Witch" entstand dort. Coelho forderte seine Leser auf, "Die Hexe von Portobello" für den Film umzuschreiben. Daraus entstanden vierzehn professionelle Kurzfilme, und auch das Buch konnte im Handel profitieren. "Das Internet hat mich gelehrt, keine Angst davor zu haben, Ideen auszutauschen und andere dazu zu motivieren, ihre Ideen kundzutun. Es hat mich auch gelehrt, niemals eine vorgefasste Meinung darüber zu haben, wer kreativ ist und wer nicht – denn wir alle sind kreativ", bringt der Schriftsteller seine Ansichten auf den Punkt. Das Ganze entbehre nicht einer gewissen Ironie: Giordano Bruno wurde dafür bestraft, dass er seine Ideen kundtat. In der heutigen Welt werde man bestraft, wenn man es nicht tut.