Rungholt Band 5: Flutgrab
Story:
Als Rungholt zuletzt auf Mörderjagd ging, gehörte er noch zu den Profiteuren der Krise. Die Vitalienbrüder blockierten die Ostsee, und im vom Seehandel abhängigen Lübeck bahnte sich eine Hungersnot an. Anstelle der Lebensmittel, die nicht in die Stadt gelangten, kauften die Menschen Rungholts Bier und machten seine Brauerei hoch profitabel.
Im Sommer 1394 dauert die Blockade aber immer noch an, in Lübeck stapeln sich wortwörtlich die Hungertoten, und Bier kann sich längst kaum noch jemand leisten. Rungholt verdient nichts mehr und gerät mit den Raten für den Kredit bei dem halboffiziellen Bankier d'Alighieri in Rückstand.
Der bietet ihm ein Geschäft an: Dem Geldverleiher wurde eine Ladung wertvoller Edelsteine gestohlen. Wenn Rungholt die Diebe finden kann, löscht d'Alighieri seinen Eintrag im Schuldbuch. Gelingt es dem bärbeißigen Händler jedoch nicht, geht sein gesamter Besitz – Haus, Hof, Brauerei, Schiff, alles – an den Bankier. Rungholt geht auf den Vorschlag ein. Nennt man ihn nicht "Bluthund", und hat er nicht bereits eine ganze Reihe Sünder aufgespürt? Aber hinter dem vermeintlich einfachen Diebstahl steckt mehr als es zunächst scheint. Was hat eine tote Magd, an deren Schicksal einer der Lübecker Bürgermeister ein persönliches Interesse hat, damit zu tun? Und was wird aus den Kindern, die überall in der Stadt spurlos verschwinden?
Rungholt verstrickt sich in eine Angelegenheit, in der er weit mehr riskiert als nur all sein Hab und Gut...
Meinung:
Was wäre Don Quijote ohne Sancho Panza, was Sherlock Holmes ohne Doktor Watson, und was wäre Rungholt ohne Marek Bolge? Der feiste Hansa braucht seinen Kapitän als, das Wortspiel sei verziehen, Gegengewicht, Freund und Widerpart. Das sah man schon im Vor-Vorgänger "Knochenwald": Als Marek erst recht spät im Buch zu Rungholt in München stieß, las sich der Beginn des Romans merklich zäh. Im folgenden Band "Todesfracht" waren die beiden von der ersten Seite an zusammen unterwegs, und die Geschichte nahm direkt Tempo auf.
In diesem Roman wiederum ist Marek zu Beginn nicht nur abwesend, Rungholt hat auch bald Grund zu glauben, dass er seinen Kapitän und Freund nie wieder sehen wird. Und prompt schleppt sich der Beginn von "Flutgrab" doch etwas dahin. Derek Meister zeigt zwar ein weiteres Mal, wie eindrucksvoll er erzählen kann. Man leidet regelrecht mit, wenn Rungholt durch ein von wochenlangem Regen praktisch überflutetes Lübeck stapft und ihm alles, was ihm lieb und teuer ist, wegzubrechen scheint. Aber die Dynamik fehlt ein Stück weit, bis – so viel sei verraten – Marek doch wieder auftaucht.
Überhaupt scheint es der Autor diesmal darauf abgesehen zu haben, seinen Helden an den tiefsten Punkt zu bringen, seit der als einziger seiner Familie die Grote Mandräke überlebte. Mit Seehandel ist schon länger nichts mehr, das gute Geschäft mit der Brauerei war nicht mehr als ein kurzes Aufflackern, und als er einen Konvoi mit Waren über Land schicken will, wird der überfallen und geplündert. Rungholt, der immer viel Wert darauf legte, seinen Reichtum als Symbol seines Erfolgs zur Schau zu stellen, muss nun auch den Pfennig mehrfach umdrehen. Auch sein Ansehen in der Stadt und selbst sein persönliches Umfeld droht wegzubrechen.
Nicht nur wegen dieser eher trostlosen Aussichten ist der Roman nichts für zu junge Leser. Der Autor nutzt seine Fähigkeiten zu plastischen Beschreibungen auch für Szenen, die selbst bei Erwachsenen Albtraumpotential haben können. Als Beispiele genannt seien nur die Familie im Keller oder das Ende der Knochenfrau. Hinzu kommen die Albträume, die Rungholt öfter heimsuchen, und bei denen nicht immer gleich klar ist, dass es sich nicht um die Realität des Buches handelt.
Beim Kriminalfall hat Meister wieder viel Kreativität bewiesen. Aber wie ebenfalls aus früheren Bänden bekannt, wird das, was Rungholt aufdeckt, mehr dazu verwendet, den Protagonisten noch weiter zu beleuchten. Man könnte sagen, der dicke Händler ist nicht Mittel zum Zweck, Verbrechen aufzuklären. Eher sind die Untaten Mittel zum Zweck, mehr über Rungholt zu erfahren. Spannung kommt trotzdem genügend auf, nicht zuletzt wenn Meister einen alten Trick verwendet: Rungholt und Marek sind getrennt voneinander unterwegs, und der Autor schaltet genau immer dann zum anderen Schauplatz, wenn es auf dem einen richtig spannend wird. Interessanterweise scheinen sogar diese Punkte aufeinander abgestimmt. Als Rungholt einmal besonders leise sein muss, um nicht erwischt zu werden, lauscht Marek als nächstes, ob es im Inneren eines Fasses vielleicht ein Geräusch gibt, und so weiter.
Die historische Einbettung ist auch in diesem Roman gut gelungen. Die Figuren sind merklich Kinder ihrer Zeit und reagieren nach damaligen Wertmaßstäben. Die Hungersnot in Lübeck, ebenso wie die dadurch ausgelösten sozialen Unruhen, sind historisch. Ob das, was Rungholt schließlich enthüllt, tatsächlich so passiert ist, sei hier einmal dahingestellt. Denkbar wäre es auf alle Fälle.
Am Ende des Romans ist Rungholt bereit für neue Abenteuer – vielleicht noch mehr, als er es in den bisherigen fünf Romanen überhaupt war. Wenn Derek Meister davon weiterhin so plastisch und spannend erzählt wie in diesem Band, können sich die Leser darauf freuen. Ein neuer Anfang könnte der Reihe durchaus gut tun, da die gewohnten Gleise schon leichte Anzeichen von Eingefahrensein zeigen.
Fazit:
Rungholt ist in großen Schwierigkeiten und riskiert alles. Aber hinter dem vermeintlich einfachen Fall, den er aufklären soll, verbirgt sich viel mehr. Derek Meister liefert erneut einen guten historischen Roman ab, der in erster Linie durch die plastische und nachvollziehbare Erzählweise überzeugt. Nur der Beginn ist, wie immer, wenn Marek als Sidekick und Widerpart nicht zur Verfügung steht, etwas zäh.
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Derek Meister
Rungholt Band 5: Flutgrab
Erscheinungsjahr: 2012
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Blanvalet
Preis: € 13,00
ISBN: 978-3-442-37647-6
416 Seiten
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