Denkzettel
Story:
Dieter Hildebrandt schaut auf seine Zettel und denkt nach. Inspiriert von einer Fülle von Notiz- und Erinnerungszetteln kommentiert der Altmeister des deutschen Kabaretts den Zustand der damals kaum wiedervereinten Republik.
Meinung:
Wie so oft bei Hildebrandt ist auch in diesem Buch das Thema mehr Anlass als tatsächlich Thema. Immer wiederkehrender Ausgangspunkt ist ein wahres Chaos aus Zetteln, in dem der Autor längst den Überblick verloren hat. So liegt zum Beispiel ein Zettel im Terminkalender, der daran erinnern soll, einen Zettel auf die Treppe zu legen mit dem Termin, zu dem er am nächsten Tag muss. Andere Zettel sind inzwischen längst volljährig, weil Hildebrandt sie grundsätzlich nicht wegschmeißt, man könnte sie ja noch mal brauchen. Den Versuch, die vom Zusammenspiel eines Sturms und eines unvorsichtig geöffneten Fensters durcheinandergewirbelten Notizen wieder zu ordnen, hat er gar nicht erst unternommen.
Das ist die Basis, man könnte auch sagen, das ist der Vorwand, von dem aus Hildebrandt seine bekannten gedanklichen Spaziergänge unternimmt. Wie zufällig kommt er vom Hölzchen zum Stöckchen, vom Computervirus zur Rentenversicherung, von Tschernobyl zu Franz-Josef Strauß. Aber man merkt deutlich, dass jeder dieser Wege wohlüberlegt ist, hinter dem scheinbaren Irrlichtern steckt Methode. Der Autor kommt stets genau dort an, wo er hin will.
Dabei teilt er ordentlich aus. Praktisch nichts und niemand ist vor seiner spitzen Zunge sicher, Politiker, die Medien, seine Mitmenschen allgemein und auch er selbst. "Denkzettel" erschien 1994, als die sogenannten "Fünf Neuen Bundesländer" zumindest in dieser Form tatsächlich noch einigermaßen neu waren. Und so regt sich Hildebrandt auf über hohe Wahlprozente für rechte Parteien, über westliche "Alteigentümer" ostdeutscher Immobilien und Betriebe, oder über den damals noch amtierenden Kanzler Kohl. Einige Namen, die er erwähnt, werden nicht mehr jedem Leser etwas sagen. Wer waren noch gleich Rudolf Seiters oder Hans-Ulrich Klose? Bei anderen wird man sich wieder einmal bewusst, wie lange sie eigentlich schon dabei sind, etwa Wolfgang Schäuble.
Im Vergleich zu späteren Büchern von Dieter Hildebrandt wirkt "Denkzettel" packender, engagierter. Es sei dahingestellt, ob das am Autor liegt oder an seinen Themen. Aber es ist eine interessante Vorstellung, dass Helmut Kohl seinerzeit "besseres" Material für witzige und scharfe Pointen geboten habe als seine Nach-Nachfolgerin heute, in deren Regierungszeit etwa Hildebrandts Buch "Ausgebucht" fällt.
Apropos witzig, zu Lachen gibt es reichlich. Der Autor verpackt seine Anmerkungen über Gott und die Welt (oder besser, über Gott und Deutschland in diesem Fall) wie von ihm gewohnt mit reichlich Humor. Dabei hilft ihm auch seine bekannte Beobachtungsgabe. Oft steigen dem Leser die Figuren, die er beschreibt, geradezu plastisch von den Seiten entgegen und man erkennt sie problemlos wieder, seien es Prominente oder "Typen".
Man mag nach beinahe zwei Jahrzehnten die alten "Denkzettel" für nicht mehr relevant halten. Sicher, so manches aus dem damaligen Tagesgeschäft der Republik, gegen das der Autor wettert, ist inzwischen überholt, Helmut Kohl etwa wird die nächste Bundestagswahl mit Sicherheit nicht gewinnen. Aber vieles andere ist zeitübergreifend aktuell. Hildebrandts Gedanken zu den rechtsextremistischen Umtrieben der frühen Neunziger kommen einem heute erschreckend vertraut vor. Anderes ist quasi zeitlos, so sehr ändern sich die Menschen in siebzehn Jahren dann auch wieder nicht. Außerdem ist es durchaus interessant, einmal einen Blick zurückzuwerfen darauf, wie das so war mit der DDR und der "alten" BRD, mit der Wiedervereinigung und den ersten Jahren Deutschlands danach.
Fazit:
Hildebrandt unternimmt aus dem Chaos seiner Notizzettelsammlung Ausflüge zu den unterschiedlichsten Themen. Thematisch merkt man dem Buch an, dass es mittlerweile fast zwei Jahrzehnte auf dem Buckel an, aber viele Gedanken sind bis heute (oder heute wieder) relevant. Und lustig sind die "Denkzettel" allemal.
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Dieter Hildebrandt
Denkzettel
Erscheinungsjahr: 1994
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Knaur
ISBN: 3-426-60302-0
240 Seiten
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