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Wir können nicht nicht lesen
Professor Manfred Spitzer ist nicht nur Neurobiologe am Ulmer Universitätsklinikum, er ist auch Buchautor und spielt Saxophon. Alles drei davon spielte in seinen Vortrag hinein mit dem Titel "Lesen als Gehirndroge - Das Gehirn will unterhalten werden".

Unser Gehirn ist eigentlich nicht zum Lesen konstruiert. Es geht gerade so, Professor Spitzer verglich unser Gehirn beim Lesen mit einem Traktor im Formel Eins-Rennen. Aber wenn wir es einmal gelernt haben, können wir nicht mehr damit aufhören. Sobald wir etwas Geschriebenes sehen, lesen wir es auch. Wir können nicht auf ein Wort schauen, ohne die Zeichen zu interpretieren.

Dabei gleiten unsere Augen nicht gleichmäßig und linear über die Zeilen, im Gegenteil: Sie springen vorwärts und rückwärts. Deshalb bekommen wir auch Probleme, wenn wir jeweils nur einen Ausschnitt aus einem Text sehen. Bei so genannten "Fenster-Versuchen" wurde Probanden auf einem Bildschirm nur jeweils ein Buchstabe aus einem Text gezeigt, nämlich genau der, auf den sie gerade blickten. Der Rest war durch "X" ersetzt. Wanderten ihre Augen, wurde der nächste Buchstabe sichtbar. Solche Texte können wir zwar lesen, aber nur sehr langsam. Wenn mehrere Buchstaben gleichzeitig angezeigt werden, steigt unsere Geschwindigkeit. Unsere "Normalgeschwindigkeit" erreichen wir, wenn 15 Buchstaben rechts von dem, auf den unser Blick gerichtet ist, zu sehen sind und 5 links davon. Unser Gehirn liest also quasi schon ein Stückchen vorweg, zwar noch ungenau, aber beispielsweise die Phoneme werden schon erkannt. In Kulturen, die von rechts nach links lesen wie beispielsweise im Hebräischen ist das Fenster übrigens genau umgekehrt, also 15 Buchstaben nach links und 5 Buchstaben nach rechts.

Auch für die Länge der Zeilen gibt es einen idealen Wert. Am Anfang einer Zeile springen unsere Augen auch zurück ans Ende der vorherigen Zeile. Sind die Zeilen zu lang, "treffen" wir beim Zurückspringen häufig die falsche Zeile. Sind die Zeilen zu kurz, müssen unsere Augen zu oft springen. Der ideale Wert (was alle Fans von Douglas Adams freuen wird) liegt nahe bei der legendären 42 - er beträgt nämlich 43.

Bis vor etwa fünfzig Jahren konnte man Gehirne nur auf eine Art erforschen - indem man sie aufschneidet. Das war, meinte Professor Spitzer, etwa so erkenntnisreich, als wenn wir unser Handy aufschneiden würden: Danach wüssten wir auch nicht, wie das Mobiltelefon funktioniert. In den fünfziger Jahren begannen Experimente an Mäusen. Die Nager bekamen Drähte ins Gehirn und Stromstöße verpasst. Einer Maus schien diese Behandlung sehr gut zu gefallen: Als die Forscher die Taste zum Auslösen der Stromstöße im Käfig anbrachten, betätigte die Maus ihn bis zu 3.000 Mal pro Stunde. Darüber vernachlässigte das kleine Tier alles andere, inklusive Futter und Wasser, bis es schließlich starb. Wie sich später zeigte, war diese spezielle Maus nicht etwa psychiatrisch auffällig, sondern die Drähte steckten in einem besonderen Bereich ihres Gehirns: Im Belohnungszentrum, auch bekannt als Orgasmus- oder Suchtzentrum. Wird dieser Bereich stimuliert, schüttet er körpereigenes Opium(!) und Dopamin aus - und das finden nicht nur Mäuse, sondern auch wir klasse, denn in unserem Gehirnen befindet sich dieses Zentrum ebenfalls. Es wird aktiv, wenn wir etwas erleben, das besser ist als erwartet. Positive Eindrücke, mit denen wir gerechnet haben, lassen das Belohnungszentrum hingegen eher kalt.

Das ausgeschüttete Dopamin wiederum hat eine besondere Wirkung: Es verbessert unsere Lernfähigkeit. Wir lernen also besonders gut, besonders schnell und besonders dauerhaft, wenn es uns Spaß macht - und zwar mehr Spaß, als wir vorher gedacht haben. Unser derzeitiges Schulsystem treibt den Kindern aber den Spaß am Lernen geradezu systematisch aus, meint Professor Spitzer. Man spricht nicht umsonst vom "Ernst des Lebens".

Zum Schluss beantwortete Professor Spitzer noch Fragen aus dem Publikum. Dabei erzählte er, dass in bestimmten Bereichen des Gehirns tatsächlich auch bei Erwachsenen noch neue Hirnzellen gebildet werden. Lange Zeit war gültige Lehrmeinung, dass Erwachsene im Laufe der Jahre nur Hirnzellen verlieren. Inzwischen ist aber nachgewiesen, dass im Hippocampus, der für unser Kurzzeitgedächtnis zuständig ist, neue Zellen nachwachsen. Im Cortex hingegen gibt es keine neuen Zellen. Das ist auch ganz gut so, denn der Cortex ist für unser Langzeitgedächtnis zuständig. Und wer will nach einigen Wochen Urlaub beispielsweise in China wieder neu Deutsch lernen müssen, weil inzwischen die Zellen und ihre Verknüpfungen im Cortex erneuert wurden? Es gibt aber auch Tiere, denen im Cortex etwas nachwächst. Je höher organisiert und je sozialer die Tiere jedoch sind, desto weniger tut sich im Cortex, soweit es neue Zellen betrifft.

Musik und Sprache haben sehr viel miteinander zu tun. Es gibt links vorne in unserem Gehirn einen Bereich, der grammatikalische Fehler in einem Satz erkennt, und zwar innerhalb von gerade mal 200 Millisekunden - schneller als unser Bewusstsein es schaffen würde. Praktisch gegenüber, also auf der rechten Seite, befindet sich ein Analogon, das Fehler in Akkordfolgen erkennen kann.

Oft werden Eltern, die ihren Kindern beispielsweise vorlesen, etwas schief angeschaut - nicht dass sie das kleine Wesen überfordern. Aber Professor Spitzer erklärt, dass Kinder sich das aus der Informationsflut heraussuchen, was sie verarbeiten können. So schadet es beispielsweise durchaus nicht, wenn ein Philosophie-Professor seinem neun Monate alten Säugling Kant vorliest. Der bekommt zwar von Kant noch nichts mit, aber er eignet sich die Laute seiner zukünftigen Muttersprache an. Wichtig ist, dass der Vorlesende Spaß dabei hat. Wenn der Philosophen-Vater ein vermeintlich kindgerechteres Buch gelangweilt herunterleiern würde, hätte auch der Nachwuchs weniger Spaß daran und würde weniger lernen.

Alle Sprachen dieser Welt kennen insgesamt übrigens gerade mal 70 unterschiedliche Sprachlaute. Jede einzelne Sprache verwendet eine Teilmenge davon. Laute, die die eigene Muttersprache nicht verwendet, können wir später nur noch schwer hinzulernen. Wenn wir später im Leben eine Sprache lernen, bleibt deshalb in der Regel ein Akzent. Besonders gut lernen wir Sprachen als Kinder. Aber der Ansatz, deshalb schon in der Grundschule oder im Kindergarten Englischunterricht einzuführen, kann nach hinten losgehen. Denn eine Lehrerin, die sich - als nicht native speaker - mit Akzent durch den Englischunterricht quält, vermittelt ihren Schülern vor allem eins: Englisch ist furchtbar. Manfred Spitzer schlägt deshalb vor, beispielsweise Engländer und Amerikaner an die Schulen zu holen. Die bräuchten gar nicht mal ausgebildete Lehrkräfte zu sein, und sollten nach Möglichkeit auch kein Deutsch sprechen. Aber wenn ein native speaker mit den Kindern beispielsweise Basketball spielen würde, hätten die Schüler den Ton der englischen Sprache nach kurzer Zeit im Ohr. Und wer sich beim Basketballspielen verständigen will, lernt notfalls auch Englisch.

Warum lesen wir manche Autoren gerne und können mit anderen nichts anfangen? Diese Frage kann Professor Spitzer aus dem Stand nicht beantworten, aber in der Musik gibt es die Theorie mit dem schönen Namen "Darling they are playing our tune"-Theorie. Wenn wir mit einem Lied oder einer Art von Musik ein positives Erlebnis verbinden, gefällt es uns besser. Mit Büchern wird es ähnlich sein, meint Manfred Spitzer.

Geld macht übrigens doch glücklich - zumindest bis etwa 20.000 Euro Jahresgehalt. Denn wer nichts bis wenig hat, für den ändert ein bisschen mehr spürbar etwas am Lebensstandard. Über dieser Grenze kann mehr sogar frustrierend sein: Wer beispielsweise drei Jahre auf ein neues Auto gespart hat, freut sich vielleicht zwei Wochen darüber, dass es etwas schneller fahren kann als das alte. Danach hat sich der Neuigkeitswert abgenutzt, und die nächsten drei Jahre Sparen beginnen.

Bei jeder neuen Generation ist es das Gleiche: Was ihre Eltern toll fanden, ist für sie sprichwörtlich von gestern. Auch das hängt mit dem Dopamin-System in unserem Gehirn zusammen. Da junge Menschen schneller lernen können, haben sie das Wissen der Alten meist recht schnell intus. Danach reagiert ihr Dopamin-System vor allem auf eines - auf Neues, auf anderes als die bekannten Vorlieben ihrer Väter und Mütter.

Etwas Neues konnten auch zehn Zuhörer des Vortrags unter ihren Stühlen finden: Wer dort einen festgeklebten Zettel fand, durfte ein Buch aus der Feder von Manfred Spitzer - freundlicherweise zur Verfügung gestellt von dtv und dem Schattauer Verlag - mit nach Hause nehmen. Aber wo bleibt eigentlich das anfangs erwähnte Saxophon? Das spielte Professor Spitzer höchstpersönlich. Zusammen mit Dr. Wulf Betram, Verleger des Schattauer Verlags, und Dr. Joram Ronal, Pianist und Arzt bildet er die Band "Braintertainer". In der Pause und zum Abschluss des Vortrages bewiesen die drei, dass Wissenschaftler nicht nur über die Wirkung von Musik im Gehirn referieren, sondern auch Musik spielen können.

Eine Veranstaltung auf der Buchmesse legt den Verdacht nahe: Manfred Spitzer hat ein (weiteres) Buch geschrieben. In "Braintertainment" setzt er sich zusammen mit fast zwanzig weiteren Autoren mit zwei Prämissen auseinander: Hirnforschung ist viel zu spannend, um sie dem Elfenbeinturm zu überlassen und Ein vergnügtes Gehirn lernt besser als ein angestrengtes. Unter Spitzers Mitautoren finden sich aber nicht nur Wissenschaftler, sondern beispielsweise auch der (leider kürzlich verstorbene) Satiriker und Dichter Robert Gernhardt, der Kabarettist Eckhardt von Hirschhausen oder der Zeichner FK Wächter. Dabei kommen dann Kapitel zustande mit Titeln wie "Wo geht es hier zum Hippocampus?", "Humor ernst genommen - Lächeln, Erheiterung und das Gehirn" oder "Das Gehirn auf der Couch".


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Bericht vom: 05.10.2006 - 21:52
Kategorie: Tagebuch
Autor dieses Berichts: Henning Kockerbeck
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