Zeitschichten
Story:
Jason Kraft ist der Erste Offizier der Redshift. Das Hyperraumschiff trägt diesen Namen nicht zufällig, denn während es durch die höheren Schichten des Hyperraums fliegt, beträgt die Lichtgeschwindigkeit an Bord nur ein Dreißigmillionstel des Normalwerts. Deshalb müssen sich Passagiere und Crew ständig mit relativistischen Effekten auseinandersetzen. Beispielsweise laufen auf jeder Ebene des Schiffes die Uhren wortwörtlich anders, weil die Zeit unterschiedlich schnell vergeht. Die Gravitation ist auf Augenhöhe geringer als auf Höhe der Füße, und an einigen Stellen des Schiffs kann man sich selbst bei dem beobachten, was man vor einigen Minuten getan hat, weil das Licht regelrecht einen Kreis beschreibt.
Als eine Passagierin tot aufgefunden wird, glaubt man zunächst Selbstmord. Schließlich hatte Jenni Sonders bereits kurz zuvor einen Suizidversuch unternommen, den Jason nur durch Zufall vereiteln konnte. Aber der Erste Offizier glaubt nicht an diese Erklärung. Als kurz darauf ein Besatzungsmitglied spurlos verschwindet, wird klar, dass mehr hinter der Angelegenheit stecken muss. Jason sieht sich in einen tödlichen Kampf verwickelt, in dem er jedoch einen Vortei hat: Er weiß, wie er die Besonderheiten ihrer Umgebung auf der Redshift für sich nutzen kann. Aber wird dies gegen zu allem entschlossene Gegner genügen? Und was ist überhaupt das Ziel seiner Feinde?
Meinung:
Manchmal sagt man über jemanden, er sei "schnell wie der Blitz". An Bord der Redshift ist das nicht wirklich schwer, beträgt die Lichtgeschwindigkeit doch gerade einmal zehn Meter pro Sekunde. Mit einem kleinen Sprint ist es also kein Problem, jemanden zu erreichen, bevor dieser überhaupt sehen kann, dass man losgelaufen ist – man hat unterwegs einfach das Licht überholt.
Dieses Beispiel illustriert, wie ungewöhnlich der Schauplatz ist, an dem John E. Stith seinen Roman spielen lässt. Allerdings benötigt man kein Physikstudium, um "Zeitschichten" zu verstehen. Alles Notwendige wird entweder direkt vom Ich-Erzähler Jason Kraft oder in einem erfreulich ausführlichen Anhang erklärt. Außerdem ist der Einfluss der besonderen Umgebung auf Figuren und Handlung geringer als man vermuten könnte. Der Autor verwendet die kleinen Unannehmlichkeiten und großen Gefahren, die einem an Bord der Redshift drohen können, eher als zusätzliche Möglichkeiten zum Erzeugen von Spannung denn als zentrales Handlungselement. Man könnte es vergleichen mit einem Thriller, der an Bord eines (See-)Schiffes spielt und in dem sich der Held mit den schwankenden Planken arrangieren muss.
Jason Kraft ist in jedem Fall ein klassischer Held: Immer besonnen, immer im Dienst, und wenn es notwendig werden sollte, schaltet er schon mal in bester "Stirb langsam"-Manier ein halbes Dutzend Gegner im Alleingang aus. Die Vorgeschichte der Figur bietet jedoch genügend Erklärung für diese Talente, so dass man sich als Leser nicht wirklich daran stört. Außerdem führt Stith dem Leser indirekt die negativen Seiten von Jasons Persönlichkeit vor Augen, so dass das Heldentum des Protagonisten längst kein strahlendes ist. Insbesondere das, was Jason in seiner Kindheit durchmachen musste (und, ohne zu viel vorwegzunehmen, ein Teil dessen, was er im Lauf des Abenteuers entdeckt), ist so grausam, dass "Zeitschichten" für junge Leser mit Sicherheit nicht geeignet ist.
Wer aber verstehen und verkraften kann, dass manche Menschen anderen zu ihrer persönlichen Befriedigung schreckliche Dinge antun können, bekommt mit diesem Roman eine spannende Abenteuergeschichte im typischen Stith-schen Stil. Ein einsamer Held, hinter dem mehr steckt als seine Mitmenschen zunächst wissen, muss sich gegen eine Übermacht zur Wehr setzen. Dabei setzt er nie nur auf Gewalt, ist aber auch in der Lage kaltblütig zu töten, wenn es notwendig wird. Über längere Teile der Geschichte befindet sich der Held auch in der Gewalt seiner Feinde und kann seine Fähigkeiten nur begrenzt ausspielen, weil er andernfalls die Frau, die er liebt, in Gefahr bringen würde. Bis er sich gegenüber dieser Frau öffnet, braucht es einige Zeit. Wer sich jetzt an andere Romane von John E. Stith wie Rückkehr nach Neverend erinnert fühlt, liegt richtig.
Das soll aber nicht heißen, dass der Autor einfach nur das wiederholt hätte, was er in anderen Romanen zuvor oder danach auch erzählt hat. "Zeitschichten" folgt zwar dem gleichen Grundmuster, ist aber eigenständig genug, um trotzdem interessant zu sein. Spannend ist das Abenteuer, auf das Stith Jason und die anderen schickt, ohnehin. Der Autor erzählt ein solides Abenteuergarn, das beispielsweise für eine Zugfahrt oder Flugreise solide Unterhaltung bietet. Er erfindet das Genre nicht neu, man sollte weder hohe literarische Weihen noch ausgeklügelte Figuren erwarten. Aber jeder der Charaktere ist psychologisch glaubwürdig angelegt, selbst die, die der Leser ohne weiteres als "Monster, und mehr nicht" akzeptiert hätte.
Der deutsche Titel "Zeitschichten" kann nicht ganz mit der Vieldeutigkeit des Originaltitels "Redshift Rendezvous" mithalten, aber das war auch eine schwierige Aufgabe für den deutschen Verlag. Wer allerdings die Dame mit der Schwammfrisur und der violetten Haut auf dem Cover sein soll, wird wohl ein Geheimnis bleiben.
Fazit:
John E. Stith liefert ein spannendes Abenteuer ab, in dem die ungewöhnlichen physikalischen Eigenschaften des Schauplatzes sinnvoll eingebunden werden, ohne ein Physikstudium beim Leser vorauszusetzen. Die Vorgeschichte des Helden macht den Roman als Lektüre für junge Leser ungeeignet. Wer ein Buch für eine längere Zugfahrt oder Flugreise sucht und bei Begriffen wie Relativitätstheorie oder Rotverschiebung das Buch nicht sofort wieder zuschlägt, ist hier an der richtigen Adresse.
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John E. Stith
Zeitschichten
Redshift Redezvous
Übersetzer: Norbert Stöbe
Erscheinungsjahr: 1999
Autor der Besprechung:
Henning Kockerbeck
Verlag:
Heyne Verlag
ISBN: 3-453-13991-7
350 Seiten
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