Kümmernisse
Story:
Im Frauengefängnis La Roquette kommt 1967 Angèle zur Welt. Ihre Mutter, eine Insassin, gibt sie an ihre Großmutter weiter, die dem Kind ein Eltern-Ersatz gibt. Ihr Vater ist unbekannt und so versucht sie später herauszufinden, wer er war. Dabei führt die Spur in die Vergangenheit, zu jenem mysteriösen Raubüberfall, wegen dem ihrer Mama einst verhaftet wurde.
Meinung:
Ein Kind, das nach seinem Vater sucht. Ein Verbrechen, dessen wahrer Täter auf der Flucht ist. Und eine Mutter, die ihrem Kind gegenüber keinerlei Emotionen aufbringt. Was bei vielen Autoren die Zutaten zu einem perfekten Drama gewesen wären, ergibt in diesem Fall einen Roman, der sich mehr für seine Figuren interessiert, als für die Handlung.
Geschrieben wurde "Kümmernisse" von Judith Perrignon. Die Autorin ist Mitte 40 und lebt in Paris. Sie war viele Jahre lang Redakteurin bei der Tageszeitung La Libèration, ehe sie freiberufliche Autorin und Essayistin wurde. Dieser Roman ist ihr Erstlingswerk.
Helena sitzt 1967 wegen einem Raubüberfall im Gefängnis. Dabei verschwieg sie allen, dass sie schwanger ist. Schließlich kommt das Kind schließlich zur Welt. Angèle heißt sie, und wird von ihrer Großmutter Mia aufgezogen, solange bis ihre Mutter freigelassen wird. Doch als diese wieder auf freiem Fuß ist, reagiert sie distanziert auf ihre Tochter. Schon fast emotionslos schickt sie schließlich ihr Kind ins Internat.
Jahre später ist Angèle erwachsen geworden. Sie restauriert alte Spielsachen und begibt sich auf die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit. Sie will wissen, wer ihr Vater war und wieso er sie und ihre Mutter verließ. Dabei stößt sie auf einen alten Journalisten, der ihrer Mama immer wieder unter die Arme griff. Und er hilft ihr schließlich dabei, ihren Papa zu finden. Die Spur führt in die USA.
Mit 180 Seiten erwartet den Leser kein umfangreicher Roman. Dennoch wusste die Autorin jede einzelne zu nutzen. Denn das Buch ist atmosphärisch äußerst dicht geworden.
Dabei ist das besondere, dass der Band fast gänzlich ohne Dialoge auskommt. Stattdessen wird die Geschichte aus der Perspektive der Protagonisten erzählt. Monologe prägen das Erscheinungsbild der Erzählung. Und ausgerechnet die Person, die der Dreh- und Angelpunkt von "Kümmernisse" ist, erzählt nichts.
Helena bleibt geradezu stumm, weshalb man auf die Schilderungen der anderen angewiesen ist, um sich ein Bild dieser Frau zu machen. Doch sind diese natürlich subjektiv geprägt, wodurch sie ein Mysterium bleibt. Es bleibt zu vermuten, dass sie an einem gebrochenen Herzen erkrankt war, als ihre Liebe, Angèles Vater, sie sitzen ließ. Und ebenso lässt sich daraus entnehmen, dass ihre Tochter sie viel zu sehr an den Mann ihres Leben erinnerte, weshalb sie wiederrum ihr gegenüber keine Gefühle aufbringen kann. Der Schmerz, an den sie ihr Kind erinnert, ist viel zu groß um ein normales Leben zu ermöglichen.
Gleichzeitig ist sie auch der Auslöser für diverse Verluste, die die Erzähler in ihrem Leben erlitten haben. Mia musste ihre Stelle als Tänzerin aufgeben, als sie mit Helena schwanger war, und das Familienleben eines Journalisten, der sich für ihren Fall interessiert, litt wegen seiner Beziehung zu ihr. Und so fragt man sich ständig, wer oder was diese Frau ist, die einen solchen Einfluss auf das Leben der anderen hat. Eine Antwort darauf gibt es jedoch nicht.
Sie wird dadurch zu einem Mysterium, einem Rätsel. Und zu dem Grund, weshalb man als Leser so schwer von dem Roman lassen kann. Man ist einfach von ihrer Person fasziniert und von der Art und Weise, wie sich die Menschen in ihrer Umgebung von ihr beeinflussen lassen. Am Ende bleiben Fragen offen, doch nähert dies umso mehr die Faszination, die sie ausübt.
Frau Perrignon benutzt für ihren Roman eine bildhafte Sprache. Da wechselt zum Beispiel eine Arroganz das Lager. Auch dies prägt die Geschichte und trägt ebenso dazu bei, dass man von ihr förmlich aufgesogen wirkt.
Am Ende kann man dem Buch nur die Bestnote geben. Ein "Klassiker" der einen Kauf wert ist!
Fazit:
"Kümmernisse" ist ein ungewöhnlicher Roman. Judith Perrignon erzählt eine Geschichte, die nahezu ohne Dialoge auskommt. Die Hauptperson lernt man nur über die Erzählungen anderer Leute kennen. Doch was vielleicht bei anderen Büchern ein Nachteil ist, wird in diesem Fall ein Vorteil. Denn so lernt man eine mysteriöse Person kennen, die ihre Umwelt stark beeinflusst. Man ist von ihr, wie so viele andere auch, fasziniert. Und unterstützt durch die bilderhafte Sprache wird man diesen Band nicht so schnell aus der Hand legen.
|