Die Tochter des Gerbers
Story:
Das Leben der jungen Arlette ändert sich von Grund auf, als sie von Rittern vergewaltigt wird. Alle Versuche, Gerechtigkeit zu erfahren, scheitern jedoch und schon bald sind die Kinder, die sie im Laufe der Jahre bekommt, ihr einziger Trost. Und eines von diesen wird als Wilhelm der Eroberer in die Geschichte eingehen.
Meinung:
Es soll ja immer noch Leute geben, die das Mittelalter romantisch sehen. Dabei war diese Zeit keineswegs so idyllisch, wie es uns die Sagen weismachen wollen. Es gab damals ein starkes Standes-Denken, welches sich für die Menschen, die keine Ritter oder Geistliche waren, eher negativ auswirkte. Genau diese Erfahrung muss Arlette machen, die Heldin in Hilke Müllers Roman "Die Tochter des Gerbers".
Der Name ist eines der Pseudonyme der Autorin Hilke Sellnik. Ihre Eltern waren beide mit dem Theater verbunden, und so erhielt auch ihre Tochter Musik- und Gesangsunterricht. Doch sie selbst fühlte sich eher in der Welt der Bücher zu Hause. Sie studierte zwar Französisch und Russisch auf Lehramt, hat jedoch nie darin gearbeitet. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Familie und wurde schon bald hauptberufliche Schriftstellerin. Dabei ist ihr Werk auf kein einzelnes Genre einzuschränken. Sie hat unter anderem Kinderbücher, Sachbücher oder Satiren geschrieben. "Die Tochter des Gerbers" ist ihr erster historischer Roman, der zuerst als Ausgabe im Club Bertelsmann erschien, ehe jetzt der Blanvalet Verlag ihn als Taschenbuch herausbrachte.
Arlette ist die Tochter der Gerberfamilie Fulbert. Als sie und ein Bruder von ihr eines Tages einen verlorengegangen Habicht entdecken, ändert sich ihr Leben. Denn bei dem Versuch, ihn einzufangen und gegen Geld weiterzuverkaufen, werden sie von Rittern entdeckt. Und diese vergewaltigen die junge Frau. Verzweifelt versucht sie später zu ihrem Recht zu kommen, doch weder der örtliche Herzog noch die Kirche schenken ihr Gehör. Zu allem Überfluss stellt sich dann auch noch heraus, dass sie schwanger ist.
Ihre Umgebung straft sie daher mit Verachtung und sie wird als Hure verschrien. Doch trotz dieser Umstände bringt Arlette am Ende einen kräftigen, gesunden Jungen zur Welt. Dies erregt das Interesse des Erzeugers, der sich nach einem Erben sehnt. Und so trennt er Mutter und Kind voneinander, was Arlette natürlich nicht auf sich sitzen lassen will. Erneut verlangt sie Gerechtigkeit, und wieder verwehrt ihr der, inzwischen neue, Herzog diese. Stattdessen nimmt er sie zu seiner Geliebten und zeugt mit ihr viele weitere Kinder, die für sie schon bald der einzige Quell an Freude sind, der ihr im Leben noch bleibt.
Arlette hat wirklich gelebt. Bekannt unter dem Namen Herleva war sie Zeit ihres Lebens (geboren 1003, gestorben 1050) in der Normandie beheimatet. Und auch die Tatsache, dass sie die Mutter von Wilhelm dem Eroberer, späterer König von England, war, ist historisch bewiesen.
Vieles, was die Autorin in ihrem ersten historischen Roman schreibt, mag erfunden sein. Doch was die historischen Details angeht, die Darstellung der damaligen Gesellschaft und die Verhältnisse der einzelnen Personen zueinander, stimmt alles. Hier hat sich Frau Hilke Müller richtig gute Arbeit geleistet, was sich deutlich auszahlt. Denn so wird man als Leser schnell in die Geschichte reingezogen.
Dabei spart die Schriftstellerin nicht mit Schock-Momenten. Angefangen mit der Vergewaltigung, über die vergeblichen Versuche der Frau, Recht zu kriegen, bis hin zu den vielfältigen Intrigen, mit der sie sich im Laufe ihres Lebens auseinandersetzen muss; all dies ist emotional schwer zu ertragen. Man mag einfach nicht glauben, dass es damals wirklich so gewesen sein soll. Und doch ist dies wahr. Eine Frau galt damals wenig.
Dies macht sich besonders in der Figur von Arlette bemerkbar. Sie verliert nach und nach ihre Fähigkeit zu lieben und empfindet nur noch in der Gegenwart ihrer Kinder etwas. Stattdessen entwickelt sie sich zu seiner grausamen Person, die ziemlich egozentrisch ist. Es fällt schwer, sich mit ihr als Hauptcharakter anzufreunden, da ihre Darstellung sie alles andere als sympathisch erscheinen lässt. Und da es dem Buch allgemein glaubwürdige Protagonisten fehlen, fällt dieses Manko umso mehr auf.
Es braucht seine Zeit, ehe man sich an diese negative Darstellungsweise der Hauptfigur gewöhnt. Doch geschieht dies erst sehr spät im Roman. Dennoch ist das Buch lesenswert, weshalb es am Ende auf ein "Reinschauen" hinausläuft.
Fazit:
Hilke Müller liefert mit "Die Tochter des Gerbers" ihren ersten historischen Roman ab. Sie stellt das Leben von Arlette, der Mutter von Wilhelm den Eroberer dar. Und man ist als Leser beeindruckt von der Art und Weise, wie die Autorin äußerst detailliert die damalige Normandie darstellt. Alles wirkt richtig und stimmig. Nur bei der Hauptfigur versagt die Schriftstellerin etwas. Ihre Arlette ist kaltherzig und sehr egozentrisch. Und ehe man sich als Leser an diese Darstellung gewöhnt hat, vergeht zu viel Zeit.
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