Wir treffen uns, wenn alle weg sind
Story:
Der Heimjunge Mojmir Demeter macht in
Prag eine Ausbildung zum Koch, als er das erste Mal von EBS hört.
Erosion of Basic Substance ist ein neuartiges Virus, das den
menschlichen Körper verdampfen lässt – im wahrsten Sinne des
Wortes. Von den Erkrankten bleibt nach ihrem Tod nichts mehr übrig
außer der Kleidung, die sie einst am Leib trugen.
Als die Krankheit die Welt heimsucht,
pflegt Mojmir gerade seine an Krebs erkrankte Ziehgroßmutter in den
Bergen. Nur langsam dringen die Meldungen vom Tod Abertausender zu
ihm durch. Der junge Roma muss erkennen, dass die altbekannte Ordnung
um ihn herum zusammenbricht und die Einsamkeit ihn nach dem Tod von
„Omi Kalomi“ einzuholen droht. Zusammen mit Carmen, dem Jagdhund
des Försters, wagt er sich nach und nach aus der Isolation, die ihm
fernab der Großstädte das Leben gerettet hat, und begibt sich auf
die Suche nach seinen Freunden und anderen Überlebenden.
Meinung:
Die Thematik, die dem Jugendroman von
Iva Procházková zugrunde liegt, ist nicht neu, aber hochaktuell.
Erst im letzten Winter schwappte wieder einer Welle der Panikmache
durch die Medienlandschaft, als die Schweinegrippe ihren Höhepunkt
in Europa erreichte. Grippeviren müssen genauso ernst genommen
werden wie SARS, HIV oder Ebola. Dennoch ist die Anzahl der
Todesfälle bei diesen Krankheiten nicht mit EBS vergleichbar.
Mit EBS hat Iva Procházková das
Supervirus erschaffen, vor dem wir uns alle insgeheim fürchten:
einen unvorstellbar effektiven Killer, gegen den es kein Heilmittel
gibt, ähnlich wie bei HIV oder Krebs. Jedoch ist es noch
ansteckender, schlimmer und tödlicher. So ist
Dr. Krautgartners Resignation nach dem letzten Besuch der
Kranken „Omi Kalomi“ nachvollziehbar. Der Glaube des Arztes an die
Macht der Medizin ist vollends gebrochen. Wenn Ärzte vergebens gegen
Tumore kämpfen, wie soll die Welt dann gegen EBS ankommen?
Die in Tschechien geborene Autorin, die
auch einige Zeit in Deutschland lebte und mit dem Deutschen
Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, geht das Endzeitszenario
anders an als man es in dem Genre erwarten würde. Zum einen lässt
sie offen, woher der Virus kam. Die Überlebenden können nur noch
darüber rätseln und sich mit dem Hier und Jetzt arrangieren.
Vielleicht war EBS ein mentaler Virus, das Mojmir und andere nur
verschonte, weil sie sich nicht viel aus Fernsehen, Internet und
anderen Medien machten.
Zum anderen begegnen Mojmir weder
Zombies bzw. „Infizierte“ wie Jim in 28 Days Later
noch Vampiren wie Robert Neville in Ich bin Legende.
Er findet sich in einer Welt wieder, die einer Geisterstadt ähnelt,
nur mit dem Unterschied, dass die Läden von den wenigen Überlebenden
geplündert wurden. Vereinzelt laufen Irre und von Angst vor einer
Ansteckung getriebene mit Waffen herum, die eine lebensbedrohliche
Gefahr für den Protagonisten und alle anderen darstellen. Zum Glück gibt es
noch Leute wie das Ehepaar Martin, das ihm mit vielen
hilfreichen Tipps und Gegenstände zur Seite steht.
In ruhigen Tönen lässt Procházková
ihren sympathischen Helden von der Einsamkeit, der unvorstellbaren
Realität mit all ihren Schrecken während und nach EBS, der
Sehnsucht nach Prag und den Beziehungen zu den wenigen Überlebenden
erzählen. Der 18-jährige Junge muss dabei langsam seine kindliche
Naivität ablegen, die ihn nicht nur daran hindert, die Realität zu
erkennen. Er muss sich mit all den Problemen herumschlagen, die auch
gleichaltrige Leser in ihrem Alltag beschäftigen. Mojmir ist als
Roma mit rassistischen Äußerungen konfrontiert, muss sich mit dem
Leben ohne Eltern und – was für ihn am schlimmsten ist – ohne
die Freunde, für die er gerne wieder kochen würde,
auseinandersetzen. Somit ist „Wir treffen uns, wenn alle weg sind“
auch eine klassische Coming-of-Age Geschichte.
Die jugendliche, zuweilen sehr
melancholische Sicht, die Mojmir auf das Geschehen hat, mag
erwachsene Leser etwas irritieren. Doch vielleicht würden einige in
einer gleichwertigen Situation ähnlich handeln und denken wie er
und die beiden später auftauchenden Jugendlichen Vašek und Jessica
. Zumal Procházková eindringlich an Freundschaft und Zusammenhalt
appelliert – egal in welcher Situation. Denn nur dann besteht auch
Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Fazit:
Mit „Wir treffen uns, wenn alles weg
sind“ legt Iva Procházková einen klassischen Jugendroman und ein
gelungenes Endzeitszenario vor. Gekonnt werden die Ängste und der
Überlebenswille der Menschen und Mojmirs Probleme geschildert. Wer
sich mit der Sicht eines 18-jährigen Jugendlichen anfreunden und bei
einem Virus-Science-Fiction weder Zombies noch Leichenberge erwartet,
kann bedenkenlos zugreifen.
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